Dieser Beitrag gibt einen Einblick, wie die Zeitgeschichte heute — mehr als 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung — auf neue Deutungskämpfe um die Geschichte der DDR reagiert.
This article provides an insight into how contemporary history today — more than 30 years after German reunification — is reacting to new debates over the interpretation of the history of the GDR.
Deutungskämpfe um Identität und Geschichte lassen den Streitwert der Vergangenheit deutlich hervortreten. In Ostdeutschland zeigen sich diesbezüglich aktuell dramatische Kipppunkte, die vor allem als negatives Erbe des Transformations- und Freiheitsschocks der 1990er Jahre diskutiert werden. Dass Ostdeutschland dabei selbst erinnerungskulturell keine Einheit bildet, ist nicht neu. Seit der Wende 1989 stehen sich Erinnerungsinitiativen, die die Repression der kommunistischen Diktatur betonen und für eine Entschädigung der Opfer kämpfen, und solche, die einen Verlust von Gemeinschaft beklagen und die Entwertung bisheriger Lebensentwürfe in den Vordergrund rücken, gegenüber, während die Grenzen immer auch fluide verliefen. Dabei unterschieden sich beide Richtungen auch hinsichtlich der Repräsentation und ihres Stellenwertes im politischen Diskurs. Erstere waren von Anfang an in etablierte Formen und Institutionen der repräsentativen Demokratie eingebunden. Ihre Forderungen waren Teil parlamentarischer und zivilgesellschaftlicher Debatten. Letztere hingegen fanden zunächst eher in gesellschaftlich marginalisierten Blasen ehemaliger Funktionär:innen statt oder waren bestenfalls Teil familiären oder lokalen Gedenkens.
Das hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Dabei finden aktuelle Deutungskämpfe um die DDR-Vergangenheit, ergänzt um eine Debatte über das Erbe der Transformationszeit nach 1990, nicht nur in einem polarisierten politischen Meinungsklima statt, sondern sind damit auch Bestandteil eines tiefgreifenden globalen Formenwandels der Demokratie, in dem soziale Medien als Ort des politischen Diskurses eine wesentliche Deutungsmacht erlangt und zum Relevanzverlust etablierter Formen demokratischer Teilhabe beigetragen haben. In diesem Kontext erfahren auch Sachbücher wie Dirk Oschmanns „Wutseller“ „Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung“ oder Katja Hoyers von Zeithistoriker:innen vielfach als in großen Teilen unsachlich und höchst selektiv kritisierte Darstellung „Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949–1990“ hohe Absatzzahlen. Gerade die in Teilen rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) profitiert in Ostdeutschland von der wachsenden Verklärung des vermeintlich friedlichen Arbeiterparadieses der DDR zum Sehnsuchtsort in Zeiten globaler Dauerkrisen sowie dem parallelen Erstarken einer Ost-Identität, die zwischen Ost-Stolz und Ost-Trotz (Steffen Mau) changiert, und verbindet dies mit eigenen politischen Forderungen und radikalen Gesellschaftsvisionen. Das jeweils beschworene Geschichtsbild folgt dabei einer einfachen Logik: Das Herrschaftssystem der DDR wird von der Alltagswelt abgekoppelt, als hätten in der DDR zwei getrennte Welten existiert. Erstere hätten DIE Ostdeutschen 1989 kollektiv zu Fall gebracht, letztere sei dann vom Westen delegitimiert und unterdrückt worden. Die AfD behauptet sogar, dass die Bundespolitik genauso bevormundend agiere wie einst die SED.

Doch wie umgehen mit diesen neuen Deutungskämpfen und welchen Beitrag kann die Zeitgeschichte dazu leisten? Während Opfergruppen der SED-Diktatur durch historische Forschungen recht klar benannt werden können, sind Diskurse über die vermeintlichen Opfer der Transformation eher auf Enttäuschungserfahrungen und Repräsentationsdefizite zurückzuführen. Die Zeitgeschichte hat in den letzten Jahren intensiv darauf hingewiesen, ostdeutsche Perspektiven dabei stärker berücksichtigt, einen kritischeren Blick auf die Vereinigungsgesellschaft geworfen und etablierte Narrative von der erfolgreichen „Wiedervereinigung“ korrigiert. So hat das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) jüngst ein großes Forschungsprojekt zur Geschichte der Treuhandanstalt abgeschlossen, das über die Behördengeschichte hinaus nach der politischen Bewältigung der sozialen und kulturellen Folgen gefragt hat. Dabei hat das Projekt vor allem die Überforderung der westdeutschen, aber auch einiger ostdeutscher Politiker:innen herausgestellt sowie gängige Stereotypen von der westdeutschen Übernahme oder ostdeutscher Anpassungsdefizite hinterfragt.
In dem Maße, wie die jüngere Transformationsgeschichte ältere Erzählungen aufbricht, wurden aus ihren Reihen auch Stimmen laut, die für eine individualisierte Erinnerungskultur auf Augenhöhe werben. Unter den Bedingungen aktueller gesellschaftlicher Polarisierungen ist ein solch voraussetzungsreiches Vorhaben jedoch eine enorme Herausforderung. Es müssen adäquate Formen des Ermöglichens von individuellem Erinnern erprobt und etabliert werden, die Widersprüche zulassen und hinreichend offene Rahmenperspektiven bieten.
Einen diesbezüglichen Beitrag leistet die Zeitgeschichte, indem sie neue Perspektiven auf den Umbruch in der DDR und Ostdeutschland anbietet und empirisch untersetzt. Hier bewegt sich die Zeitgeschichte überwiegend noch recht traditionell im nationalen Container. Im Kontrast dazu hat ein vom Leibniz-Forschungsverbund „Wert der Vergangenheit“ gefördertes Panel auf der Jahrestagung der German History Society (GHS) 2024 in Manchester (5.-7. September 2024) beispielhaft transregionale und transnationale Zugriffe auf den Umbruch in der DDR und Ostdeutschland diskutiert, die den nationalen Bezugsrahmen transzendieren, zugleich aber an bereits etablierte Forschungen zur Transnationalität und Regionalität der DDR anknüpfen. Die einzelnen Beiträge des Panels „The GDRs 1989 across borders“ nahmen unterschiedliche Ereignisketten der Umbruchgeschichte in Ostdeutschland nach 1989/90 in den Blick, in denen soziale, kulturelle und räumliche Grenzen neu verhandelt wurden. Dazu zwei Beispiele:

Dass westdeutsche Expert:innen im Osten, anders als in medialen Zerrbildern, keineswegs nur als arrogante „Kolonisator:innen“, sondern mit ihrem Knowhow auch als willkommene Problemlöser:innen wahrgenommen wurden und dabei auf gesellschaftlich tief verankerte Heimat-Vorstellungen sowie damit verknüpfte Mobilisierungspraktiken treffen konnten, zeigte Andrew Demshuk am Beispiel von Mölbis, ein Ortsteil der Stadt Rötha im sächsischen Landkreis Leipzig. Auf der Basis von Archivmaterial, Privatbeständen und Gesprächen mit Zeitzeug:innen rekonstruierte er örtliche Praktiken, die er als „grassroots reunification“ beschrieb. Unter diesem Begriff beleuchtete er die Zusammenarbeit zwischen engagierten umweltbewussten ostdeutschen Akteuren im Braunkohlegebiet südlich von Leipzig mit westdeutschen Architekten, Wirtschaftsjuristen und weiteren Experten, die in das heruntergewirtschaftete und von Umweltzerstörung geprägte Gebiet um Espenhain kamen. Die aktuelle politische Nutzung stereotyper Zerrbilder des „Westens“ und „Ostens“ negierten, so Demshuk, die Leistungen der Wiedervereinigung, die keineswegs nur westdeutschen Eliten zuzuschreiben seien, sondern auch ein breites gesellschaftliches Fundament hatten. Die Zivilcourage, die sich in Mölbis beobachten lässt, strahlte auf viele Gemeinden in der Umgebung aus, die eigene Umweltprojekte entwickelten.
Der Vortrag von Marcus Colla beschäftigte sich mit der ostdeutschen Esperanto-Gemeinschaft und zeichnete deren Beitrag zur Globalisierung in Zeiten des Kalten Krieges nach. Diese angesichts der zunehmend wachsenden Bedeutung der englischen Sprache sowie der starken Präsenz der russischen Sprache als eine „Lingua-Franca“ innerhalb des „Ostblocks“ oft übersehene Gemeinschaft, so Colla, schuf ein großes internationales Netzwerk von Kontakten und sogar Freundschaften, die nach dem Mauerfall teilweise erhalten blieben, teilweise aber zerbrachen. In seinem Vortrag beleuchtete Colla anhand einer Vielzahl von Archivquellen die Entstehung und Pflege von diesen Netzwerken aus ostdeutscher Perspektive. Trotz ihrer politischen Instrumentalisierung existierte eine aktive und engagierte Gemeinschaft von Esperantisten, die weltweit (auch im globalen Süden) Kontakte knüpfte und pflegte. Ihr Bedeutungsverlust nach 1989/90 ist aber kein Beleg für eine westdeutsche oder westeuropäische Überwältigung. Aus transnationaler Perspektive zeigt sich vielmehr ein globaler Bedeutungsverlust der Community, der bereits in den 1980er Jahren, zum Teil schon früher, einsetzte. Zudem verweist das Beispiel auf die begrenzte Erklärungskraft der gängigen These vom Globalisierungsschub nach dem Ende des Kalten Krieges.

Diese beiden Beiträge zeigen beispielhaft, wie die zeithistorische DDR- und Transformationsforschung aktuell auf die Herausforderung neuer gesellschaftlicher Polarisierungen und damit verbundener Deutungs- und Identitätskämpfe reagiert. Vor allem transregionale und transnationale Perspektiven auf die Geschichte der späten DDR und des Umbruchs nach 1989/90 wirken nicht nur einer drohenden Verinselung und Selbstreferenzialität der Ostdeutschlandforschung entgegen. Sie stellen auch ein Kontrastprogramm zu den aktuellen Deutungs- und Identitätskämpfen dar, die sich vor dem Hintergrund einer wachsenden gesellschaftlichen Überforderung mit globalen Krisen in vermeintlich national-abgeschottete Sehnsuchtsorte flüchten. Die transnationale und -regionale Perspektive könnte künftig noch stärker auf den post-sozialistischen Raum erweitert werden, mit dem Ostdeutschland über 40 Jahre lang eng verflochten ist. Vor allem dieser Umstand geht in der aktuellen Diskussion um vermeintliche Defizite in der politischen Kultur Ostdeutschlands oft unter.
Marcus Colla ist Associate Professor für Modern European Political History an der Universität Bergen, Norwegen.
Andrew Demshuk ist Professor für Geschichte an der American University in Washington D.C., USA. Im Jahr 2024 war er Leibniz “Wert der Vergangenheit”-Fellow am GWZO in Leipzig.
Christian Rau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in Berlin.
Titelbild: Mottoparty und DDR-Flagge an einem Gartenzaun in Brandenburg, 2019, Foto: Alexander Hauk / alexander-hauk.de








