Die Geschichte botanischer Gärten ist eng mit dem Kolonialismus verbunden. Gleichzeitig finden sich weltweit vom Aussterben bedrohte Pflanzenarten heute vielfach in den botanischen Gärten im Globalen Norden. Lässt sich die Krise der Biodiversität gemeinsam mit der Auseinandersetzung über koloniale Vergangenheit angehen?
The history of botanical gardens is closely intertwined with colonialism. At the same time, many plant species threatened with extinction worldwide can now be found in botanical gardens in the Global North. Can the biodiversity crisis be tackled in conjunction with the debate about the colonial past?
“It’s time to decolonise botanical collections” erklärte 2020 Alexandre Antonelli, Director of Science der Royal Botanic Gardens, Kew, den berühmten botanischen Gärten im Südwesten Londons.[1] “Politicising plants” nannte dieses Vorhaben dagegen der britische konservative Think Tank Policy Exchange und forderte, Kew Gardens möge sich auf seine Kernaufgabe konzentrieren: Forschung und Beratung in der Botanik sowie die Bewahrung und Vermittlung der einzigartigen Sammlung.[2] Was sich für die britische Gesellschaft als einer der vielen Schauplätze der im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung neu angetriebenen Auseinandersetzungen um die eigene Kolonialvergangenheit darstellte, bedeutete für die botanischen Gärten vor allem eine weitere Veränderung ihres Auftrags.
Für die Frage nach dem „Wert der Vergangenheit“ ist die Geschichte botanischer Gärten allerdings nicht nur aufgrund dieser Deutungskämpfe von Interesse: Botanische Gärten sind lebendige Sammlungen, sie gelten als lebende Speicher von Biodiversität. Vergangenheit ist in diesem Zusammenhang also nicht nur eine Ressource für gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen, sie ist auch ein materielles Gut. Lebendsammlungen allerdings sind dynamisch und anfällig. Sie verkörpern eine vergangene Vielfalt und zugleich einen zeitgenössischen Verlust. Somit kommen botanische Gärten nicht umhin, damit verknüpfte heutige Probleme wie Klimawandel und den Verlust menschlicher Lebensgrundlagen zu thematisieren.
Botanische Gärten und ihr koloniales Erbe
Botanische Gärten gibt es seit dem 15. Jahrhundert. Ihre Geschichte ist eng mit der Geschichte der Botanik verknüpft, deren koloniale Prägung mittlerweile auch Thema einer ganzen Reihe von Studien ist.[3] Die Gründung der Gärten wurde vielfach von Universitäten betrieben, boten ihre Pflanzen, ursprünglich vor allem Heilkräuter, der Forschung und Lehre doch wichtiges Material. Mit Zunahme des Seehandels und kolonialen Eroberungen seit dem 18. Jahrhundert kam es zu einem Boom botanischer Gärten und sie wurden zum Knotenpunkt der transnationalen bzw. transkontinentalen Zirkulation von Wissen, Materialitäten und Artefakten. Nun war das Ziel, die Pflanzen der ganzen Welt zu vereinen, zu erforschen, zu klassifizieren und auszustellen. In dieser Praxis des globalen Sammelns und Repräsentierens waren sie Teil imperialer Netzwerke und vielfach in koloniale Praktiken eingebunden.
Botanische Gärten in den europäischen Metropolen schmückten sich nun mit mehr und mehr exotischen Pflanzen, für deren Gedeih im europäischen Klima man Glashäuser baute. In der Zurschaustellung tropischer Nutz- und Zierpflanzen warben die Gärten für koloniale Besitztümer, während der systematische Austausch von Samen, Setzlingen und botanischem Wissen für tropische Anbaugebiete den Kolonialismus wirtschaftlich unterstützte. Auch „Völkerschauen“, also die rassistische Zurschaustellung als „primitiv“ oder „exotisch“ stigmatisierter Menschen in Zoos und Vergnügungsparks seit dem späten 19. Jahrhundert, wurden mit tropischen Pflanzen ausgestattet oder fanden teils selbst in den Gärten statt, wie etwa in Lissabon noch im Jahr 1940.

Botanische Gärten gab es auch in den Kolonien selbst. In Kalkutta, Algiers, Amani (Tansania) und vielen weiteren Orten in den Kolonien legten Europäer ebenfalls Gärten an, um den Anbau von Nutzpflanzen wie Zuckerrohr, Kaffee, Kautschuk oder Sisal zu studieren und für weltweite Plantagenkulturen zu verbessern. Allein im Britischen Empire existierten im Jahr 1900 über hundert botanische Gärten in den Kolonien. Arbeit in den Gärten und in größerem Umfang noch auf Plantagen war von Gewalt und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung geprägt und vielerorts, wie etwa in Ostafrika oder dem Amazonasgebiet, mit Systemen der Zwangsarbeit und Sklaverei verbunden. Bezogen auf die globale Vielfalt der Pflanzenwelt führte die Ausbreitung des Plantagensystems letztlich zur Ausrottung eines Großteils einheimischer Pflanzen. Ein Restbestand dieses verdrängten botanischen Artenreichtums findet sich heute wiederum in den botanischen Gärten.

Auf zahlreichen Expeditionen sammelten Wissenschaftler neben lebenden Pflanzen auch Millionen von gepressten und getrockneten Pflanzenproben. Als „Herbarbelege“ lieferten sie der Botanik eine Fülle neuen Materials, das es zu beschreiben, klassifizieren und systematisieren galt. Diese Form der Aneignung lokaler Pflanzen und, damit verbunden, lokalen Wissens, beschreiben vor allem postkoloniale Initiativen heute als „epistemische Gewalt“, erschufen europäische Gelehrte wie Carl von Linné, Joseph Dalton Hooker oder Friedrich Welwitsch damit schließlich die Botanik als hegemoniale westliche Wissenschaft, die anderes, älteres und lokales Wissen über die Pflanzenwelt unsichtbar machte.[4] Obwohl sie vielfach auf lokale Expertise angewiesen waren, um die zu klassifizierenden Pflanzen überhaupt zu finden, ihre Merkmale zu verstehen und zu vergleichen, traten sie als „Erstentdecker“ auf und überschrieben indigenes Wissen und Traditionen in ihren Neubenennungen und Klassifizierungen.
Neupositionierungen: Biodiversität bewahren, Wissen kommunizieren
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts erfanden sich botanische Gärten neu. Angetrieben durch die Dekolonisation, geringere öffentliche Ressourcen sowie ein wachsendes Bewusstsein für den Verlust der Artenvielfalt geschah diese Transformation vor allem durch Druck von außen. Statt imperialer Repräsentation und Weltgeltung rückten Forschung, Wissenschaftskommunikation, Unterhaltung und Erziehung zum Naturschutz in den Vordergrund

Auch globale Bezüge erhielten im diesem Zuge eine neue Funktion. Nachdem es jahrhundertelang vor allem darum ging, den Pflanzenreichtum der Welt nach Europa zu bringen, wogegen er im Globalen Süden den Monokulturen wich, ist heute der umgekehrte Transfer zumindest wichtiges Ziel botanischer Gärten. Aktuell sind etwa 40% der globalen Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. [5] Die größte Biodiversität befindet sich dabei im Globalen Süden und ist folglich auch hier in größter Gefahr. Die meisten Botanischen Gärten befinden sich dagegen im Globalen Norden. Ihre Sammlungen bieten eine Chance: Im Gegensatz zu den meisten Museumsobjekten können lebende Pflanzen in fast allen Fällen vermehrt werden, sind also durch Stecklinge, Ableger oder Samen reproduzierbar. Sterben Pflanzenarten an ihren Naturstandorten aufgrund von Klimawandel, Landwirtschaft oder Verschmutzung aus, können die Gärten die bei ihnen vorhandenen Reserven für deren erneute Aussiedlungen vermehren. Pflanzenarten können so vor dem endgültigen Aussterben bewahrt werden.
Wenn es nun darum gehen soll, die koloniale Vergangenheit der Gärten mit aktuellen Herausforderungen zusammenbringen, stellt die Nutzung der Lebendsammlungen zur Förderung globaler Biodiversität eine wichtige Handlungsoption der Gärten dar, die anderen sammlungsführenden Institutionen wie Museen so nicht zur Verfügung steht. Dass Forderungen nach besserem Zugang zu den Sammlungen, mehr Information etwa durch Online-Angebote, Mitsprache und eine deutliche Verbreitung der Kooperationen mit Partnern im Globalen Süden diese Entwicklung begleiten, überrascht in diesem Zusammenhang nicht, zeigt aber, dass hier enormes Potential liegt.
Eine weitere Dimension von Handlungsmöglichkeiten betrifft die Ausstellungspraxis. Zahlreiche Botanische Gärten (wie beispielsweise Berlin, Adelaide oder Kew) versuchen, die Geschichte ihrer ausgestellten Pflanzen und Sammlungen kuratorisch zu integrieren. Schautafeln, Sonderausstellungen und künstlerische Interventionen in den Gärten selbst sowie digitale Angebote weisen auf die kolonialen Triebkräfte ebenso hin wie auf die Herkunft der Pflanzen, ihre Wege in die Gärten, ihre Verbindungen zu indigener Kultur in der Vergangenheit und Gegenwart an ihren Naturstandorten. Für diese Arbeit braucht es nicht nur Kooperationen mit den Herkunftsgesellschaften, es sind vor allem aufwändige Recherchen zur Provenienz der Bestände nötig. Diese Arbeit gleicht der mittlerweile breit etablierten Provenienzforschung zu künstlerischen, technischen und ethnologischen Kulturgütern aus kolonialen Kontexten an Museen in vielerlei Hinsicht: Die Entstehung der Sammlungen ist teilweise wenig dokumentiert, inwieweit die einzelne Inbesitznahme unter Zwang erfolgte, ist oftmals kaum einwandfrei zu belegen. Dennoch gelingt es diesen Forschungen vielfach, wichtige Kontexte der Beschaffung der Objekte und ihrer Transfers in die musealen Sammlungen herauszuarbeiten, die nicht nur für die Herkunftsgesellschaften, sondern auch für die Museumsgeschichte selbst erhellend ist.
Provenienzforschung zieht stets auch die Frage der Restitution unrechtmäßig erworbener Objekte nach sich. Hier ist die Rolle der Gärten eine Besondere: Die Reproduzierbarkeit der Pflanzen macht die Rückgabe einerseits sehr einfach. Andererseits braucht es für eine erfolgreiche Wiederansiedlung von Pflanzen in der Regel weitaus mehr als ein paar Samenkörner oder Setzlinge, müssen schließlich die umweltlichen Bedingungen für ihr Überleben wiederhergestellt werden. Statt einer Restitution ursprünglicher Pflanzenarten fördern botanische Gärten deshalb auch vielfach die Ansiedlung neuer Nutzpflanzen, die eine nachhaltige Landwirtschaft ermöglichen, wie etwa die von Kew Gardens geförderte Enset-Kultivierung in Äthiopien.[6]
Ausblick: Wert der Vergangenheit in Botanischen Gärten

Im Lebendigen, so zeigen botanische Gärten, steckt stets auch die Vergänglichkeit: Nicht nur haben Pflanzen ein natürliches Lebensalter, sie lassen sich auch deutlich schlechter als unbelebte Kulturgüter schützen. Als etwa der Sturm Eunice 2022 den Isaac Newton-Baum des Botanischen Gartens Cambridge zerlegte – Spross des berühmten Baumes, dessen Apfel Newton zur Theorie der Gravität inspiriert haben soll – war für den Garten auch ein Publikumsmagnet und damit ein recht materieller Wert vernichtet. Und materiell im Sinne von monetär ist nicht nur die Unterstützung, die Re-Kultivierungsprojekte im Globalen Süden benötigen, sondern auch der aufwändige Betrieb der Gärten selbst. Dass die Kew Gardens in ihrem „Manifesto for Change, 2021-2030“ nach der Kritik ihre Sprache anpassten und nicht mehr von „decolonise“, sondern von “re-examine our collections” die Rede war, hat sicherlich auch mit der Sorge zu tun, in Zeiten knapper Kassen selbst zur bedrohten Art zu werden.
[1] https://theconversation.com/director-of-science-at-kew-its-time-to-decolonise-botanical-collections-141070 [15.10.2025].
[2] https://policyexchange.org.uk/publication/politicising-plants/ [15.10.2025].
[3] Siehe stellvertretend: Banu Subramaniam: Botany of Empire. Plant Worlds and the Scientific Legacies of Colonialism, Seattle 2024; Londa Schiebinger und Claudia Swan (Hg.): Colonial Botany. Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World, Philadelphia 2005.
[4] S. bspw. Regula Flury und Nina Schneider: Botanischer Nationalismus und Pflanzendiplomatie. Interview mit dem Künstler Uriel Orlow über seinen Werkzyklus Theatrum Botanikum, in: Widerspruch: Beiträge zu sozialistischer Politik, 37 (2018), 72, 75-85, 78.
[5] Alexandre Antonelli et al.: (2020). State of the World’s Plants and Fungi 2020. Royal Botanic Gardens, Kew.
[6] https://www.kew.org/read-and-watch/ethnobotanical-insights-enset-ethiopia
Dr. Sarah Ehlers ist stellvertretende Leiterin des Forschungsinstituts für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Umwelt-, Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte in globalen und kolonialen Bezügen. 2025 erhielt sie das Leibniz-Cambridge Museum & Collection Fellowship.
Titelbild: Great Palm House, Kew Gardens (color engraving), ca. 1851-1855, Thomas H. Shepherd. Public domain, wikimedia commons










































